Von der Angewohnheit und von der Mißlichkeit, gewohnte Gesetze zu ändern

 

Derjenige hat meiner Meinung nach die Macht der Gewohnheit sehr richtig eingesehen, welcher zuerst die Erzählung erfand; eine Bauersfrau habe ein Kalb in der Stunde, da es geboren worden, auf den Arm genommen und gestreichelt, und da sie mit diesen Liebkosungen täglich fortgefahren, sei sie durch die Gewohnheit dahin gelangt, daß sie dasselbe Tier noch auf den Armen getragen, zu einem so großen Ochsen es auch herangewachsen sei.

Denn es ist wahrlich eine heftige und listige Schulmeisterin, diese Gewohnheit! Ganz unvermerkt setzt sie sich bei uns auf den Fuß der Herrschaft; hat sie aber mit Hilfe der Zeit diesen sanften und unvermerkten Anfang genommen, so zeigt sie uns nach und nach ein trotziges und tyrannisches Gesicht, gegen welches wir nicht einmal ferner die Freiheit behalten, unsere Augen aufzuschlagen. Bei jeder Gelegenheit sehen wir sie die Regeln der Natur überwältigen. Usus efficacissimus rerum omnium magister.2 Dies läßt noch an die Höhle des Plato in seiner Republik glauben und macht es mir begreiflich, wie die Ärzte so oft, ihrer Herrschaft zufolge, die Gründe ihrer Kunst beiseite setzen können und wie jener König durch ihre Hilfe seinen Magen dergestalt einzurichten vermochte, daß er endlich vom Gift sich nähren konnte, und wie das Mädchen, von dem Albertus erzählt, sich gewöhnen konnte, von Spinnen zu leben. Und wie man in der neuen indischen Welt, unter ganz verschiedenen Himmelsstrichen, große Völkerschaften fand, welchen sie zur Speise dienten, die solche sammelten und einmachten, ebenso wie Heuschrecken, Ameisen, Eidechsen und Fledermäuse, und daß bei einer großen Teuerung eine Kröte um sechs Reichstaler verkauft wurde. Man kocht sie dort und richtet sie an mit allerlei Brühen. Man hat andere Völker angetroffen, denen unsere Fleischspeisen giftig und tödlich waren. Consuetudinis magna vis est. Pernoctant venatores in nive; in montibus uri se patiuntur; pugiles caestibus contusi ne ingemiscunt quidem.3

Diese wundersamen Beispiele verlieren ihr Wundersames, wenn wir beherzigen, wie es uns ganz gewöhnlich geht und wie die Gewohnheit unsere Sinne stumpft. Wir dürfen nicht erst auf Reisen gehen, um zu erfahren, was man von den Einwohnern in der Nähe der Katarakte des Nils erzählt, und um uns von dem zu überzeugen, was die Philosophen von der Harmonie der Sphären meinen. Die Körper dieser Kreise, die fest, dicht und glatt sind, können, indem sie sich berühren und im Vorüberfahren sich reiben, nicht fehlen, eine bewunderungswürdige Harmonie zu erregen, nach deren Rhythmus sich die Wendungen und Gänge der Sterne in ihrem Tanz richten; aber das Gehör der Geschöpfe dieses Erdbodens ist durch die ununterbrochene Dauer dieses Klanges so wie die Ägypter von den Katarakten betäubt, und sie können nichts davon vernehmen, so stark er auch übrigens sei. Die Schmiede, Tischler, Blechschläger und Faßbinder könnten das Geräusch, das sie machen, nicht aushalten, wenn es ihnen ebenso stark gellte als uns.

Mein Riechkissen dient meiner Nase; wenn ich es aber nur drei Tage hintereinander im Busen getragen habe, so dient es nur den Nasen meiner Gesellschafter. Dies hier ist noch seltsamer, daß ungeachtet der langen Zwischenzeiten und großen Lücken die Angewohnheit ihre Eindrücke auf unsere Sinne fortpflanzen und erhalten kann; wie es diejenigen erfahren, die in der Nähe von einem Glockengeläute wohnen. Ich habe meine Wohnung in einem Turm, worin eine große Glocke hängt, die bei jedem Auf- und Niedergang der Sonne zum Gebet läutet. Mein Turm selbst fährt zusammen von dem Getöne, und mir schien es die ersten Tage unausstehlich. Nicht lange, so ward ich dergestalt daran gewöhnt, daß ich’s höre, ohne darauf zu achten und oft nicht einmal davon aufgeweckt werde. Plato gab einem Kinde, das mit Nüssen spielte, darüber einen Verweis. Dies antwortete: Du brummst auch mit mir um eine Kleinigkeit. Angewohnheit, versetzte Plato, ist keine Kleinigkeit.

Ich finde, daß unsere größten Laster schon in unserer zartesten Kindheit ihre Falten legen und daß unsere hauptsächlichste Erziehung in den Händen der Säugammen liegt. Den Müttern ist’s ein Zeitvertreib, mit anzusehen, wie ein Kind einem Hündchen den Hals umdreht oder sich brav tummelt, um einen Hund oder eine Katze zu prügeln oder zu plagen; und mancher Vater ist so dumm, es für ein Zeichen einer kriegerischen Seele zu halten, wenn sein Sohn einen Bauern oder einen Lakaien mißhandelt, die sich nicht wehren dürfen, und für feinen Verstand, wenn er seine Gespielen durch Bosheit und Ränke überlistet. Dies sind gleichwohl die wahren Keime und Wurzeln der Grausamkeit, der Tyrannei und der Treulosigkeit; sie bestocken sich, wachsen lustig in die Höhe und gedeihen gewaltig unter den Händen der Gewohnheit.

Es ist eine gefährliche Lage, dergleichen schändliche Neigungen mit der Schwäche des kindischen Alters oder mit seinem Leichtsinn zu entschuldigen. Erstlich, so ist es die Natur, welche spricht; deren Stimme in diesem Alter um so reiner und inniger tönt, je feiner und unausgebildeter sie ist. Zweitens liegt die Scheußlichkeit des Betruges nicht in dem Verhältnis eines Talers zu einer Nadel, sie liegt im Betruge selbst. Ich halte es für richtiger, folgendermaßen zu schließen: Warum sollte er nicht bei Talern betrügen, wenn er sogar bei Nadeln betrügt, als, so wie sie tun: er betrügt ja nur um Nadeln, bei Talern wird er sich wohl davor hüten! Man muß die Kinder sorgfältig lehren, die Laster hassen ihrer selbst wegen, und ihnen ihre Häßlichkeit recht anschaulich machen, damit sie vor ihnen fliehen, nicht nur im Handel allein, sondern vorzüglich auch solche im Herzen verabscheuen; daß ihnen selbst der Gedanke daran zuwider sei, was für eine Larve sie auch vornehmen mögen.

Ich weiß recht gut, daß, weil ich mich in meinen Knabenjahren daran gehalten habe, beständig meinen geraden gebahnten Weg fortzugehen, und keinen Spaß daran fand, in meinen kindischen Spielen Pfiffe oder Kniffe zu gebrauchen (wie man denn in der Tat wohl zu merken hat, daß Kinderspiele keine Spiele, sondern an sich betrachtet für Kinder die ernsthaftesten Beschäftigungen sind); es noch jetzt keinen leichten Zeitvertreib gibt, bei dem ich nicht, ohne Nachdenken und aus bloß natürlichem Hang, mit Aufrichtigkeit und vollem Widerwillen gegen List zu Werke gehe. Ich spiele meine Karten mit ebensoviel Überlegung um bloße Marken und rechne so scharf, als ob ich um Goldstücke spielte; selbst dann, wenn es mit meiner Frau und meinen Kindern gleichgültig ist, ob ich gewinne oder verliere, bin ich so genau, als wann es im Ernst ginge. Es ist mir durchgängig genug an meinen eigenen Augen, mich vor bösen Künsten zu hüten. Keine Fremden können mich so genau in Aufsicht halten. Es gibt auch keine anderen, für die ich größeren Respekt hätte.

Ich habe noch neulich einen kleinen Mann, gebürtig aus Nantes, in meinem Hause gehabt, der ohne Arme geboren ist, welcher seine Füße dergestalt auf den Dienst abgerichtet hat, den ihm seine Hände leisten sollen, daß sie wirklich darüber die Hälfte ihrer natürlichen Verrichtungen vergessen haben. Im übrigen nennt er sie seine Hände; er handhabt damit Schere und Messer, er ladet eine Pistole und schießt sie los. Er fädelt eine Nadel ein, näht und schreibt; er nimmt seinen Hut ab, kämmt sich, spielt Karten und Würfel und rüttelt sie im Becher, mit ebensoviel Geschicklichkeit wie irgendein Spieler. Das Geld, welches ich ihm gab, nahm er mit einem Fuß, wie wir’s in die Hand zu nehmen pflegen. Ich erinnere mich eines anderen, der, schon als Kind noch, da ihm die Hände fehlten, zwischen Kinn und Hals einen Degen und eine Hellebarde führte, sie in die Luft warf und wieder auffing, einen Dolch warf und mit der Peitsche knallte wie der beste Fuhrmann im Reich. Man entdeckt aber die Wirkung der Gewohnheiten weit besser an den sonderbaren Eindrücken, die sie auf unsere Seele macht, wo sie nicht so viel Widerstand zu überwinden hat. Was vermag sie nicht über unser Urteil und unsern Glauben! Gibt’s wohl eine Meinung, die seltsam genug sei – ich spreche nicht von den groben Täuschungen, womit sich große Nationen und sehr klug dünkende Männer haben trunken machen lassen (denn, da dieser Teil außerhalb den Grenzen unserer menschlichen Vernunft liegt, so ist es zu entschuldigen, wenn man sich hier verirrt, insofern einer nicht außerordentlicherweise darin durch göttlichen Beistand erleuchtet worden), sondern von anderen Meinungen nur –, gibt es wohl welche, die seltsam genug gewesen wären, um sich nicht allenthalben, wo man es darauf anlegte, als Gesetz, als Wahrheit festzusetzen und fortzupflanzen? Und ist daher die alte Deklamation sehr gerecht: Non pudet physicum, id est, speculatorem venatoremque naturae, ab animis consuetudine imbutis quaerere testimonium veritatis.4

Ich bin überzeugt, es falle in die menschliche Einbildung keine so sinnlose Grille, die nicht hier oder dort öffentlich im Schwange gehe und die also gewissermaßen von unserer Vernunft gebilligt und gutgeheißen werde. Es gibt Nationen, bei denen man sich mit dem Rücken gegen denjenigen kehrt, welchen man grüßen will, und den, den man ehren will, niemals ansieht. Es gibt andere, wo, wann der König ausspuckt, die Dame an seinem Hofe, die am meisten seine Gunst hat, ihm ihre Hand vorhält; und noch eine andere Völkerschaft, wo die Vornehmsten, die ihn umgeben, sich zur Erde beugen, um in Leinwand aufzufangen, was er verdaut fallen läßt. Ich bitte hier um Raum, um eine Erzählung einzuschalten!

Ein Französischer vom Adel, der wegen seiner witzigen Ausreden berühmt war, schneuzte sich beständig mit der Faust, eine Gewohnheit, die sich mit unseren Sitten gar nicht verträgt. Dieser, als er sich eines Tages darüber gegen mich rechtfertigen wollte, fragte mich, was für ein Privilegium dieser schmutzige Auswurf hätte, daß wir selbigem ein sauberes Stück Leinwand bereithielten, um ihn aufzufangen und ihn nachher einwickelten und sorgfältig in unseren Taschen aufbewahrten. Das müßte einem Menschen doch mehr Ekel erregen als anzusehen, daß man ihn hinwürfe, wo man Platz dafür fände, wie wir es mit allen übrigen Unreinlichkeiten hielten. Ich fühlte, daß er nichts weniger als unvernünftig sprach und daß nur die Gewohnheit mich das Seltsame im Gebrauch übersehen lassen, welches wir gleich so höchst abscheulich finden, wenn es von fremden Ländern erzählt wird. Die Wunderwerke und Wunderbegebenheiten bestehen in der Unwissenheit, in welcher wir uns über die Natur befinden und nicht in der Natur selbst. Was wir immer vor Augen haben, schläfert unser Urteil ein. Die ungesitteten Nationen wundern sich ebensosehr über uns, als wir uns über sie wundern, und zwar mit ebensoviel Recht, wie ein jeder eingestehen würde, wenn er, nachdem er die Beispiele aus der Fremde durchlaufen hätte, nun auch die einheimischen durchzuprüfen und unparteiisch gegeneinander zu halten verstünde.

Die menschliche Vernunft ist eine Färberlauge, die ungefähr in gleichem Maße allen unseren Meinungen und Sitten beigemischt ist, von welcher Art solche sein mögen. Unendlich in der Materie, unendlich in der Abweichung. Ich nehme den Faden wieder auf. – Es gibt Völker, wo niemand mit dem Könige redet, seine Frau und Kinder ausgenommen, als durch ein Sprachrohr. Eine Nation, wo die Jungfrauen ihre Geburtsteile öffentlich zur Schau tragen, die verheirateten Weiber solche hingegen sorgfältig, bedecken und verbergen. Dahin gehört denn auch die andere mit ihr verwandte Sitte, wobei die Keuschheit nur im Ehestand geschätzt wird, denn die Jungfrauen dürfen sich jedem überlassen, und wenn sie befruchtet sind, dürfen sie nach eigenem Gefallen durch dienliche Mittel die Frucht abtreiben. Und wieder anderwärts werden, wenn derjenige, der eine Frau nimmt, ein Kaufmann ist, alle Kaufleute zur Hochzeit geladen, um vor dem Bräutigam die Braut zu erkennen, und die Braut gewinnt um so mehr Ehre und Ansehen wegen ihrer Dauer und Fähigkeit, um so größer die Anzahl der Gäste ist. Ist nun der Bräutigam ein Offizier, nun so werden die Gäste von seinen Kameraden genommen. Ebenso, wenn es einer vom Adelstand ist und so immer fortan. Ausgenommen, wenn es ein Bauer oder sonst einer aus der niederen Volksklasse ist; denn in diesem Falle liegt das Werk dem Gutsherrn ob. Bei alledem wird bei diesem Volk die eheliche Treue im Ehestand aufs nachdrücklichste empfohlen.

Man weiß von Ländern, wo man Jünglinge auf der Streu hält, ja von Ehen zwischen Mann und Mann. Von Ländern, wo die Weiber ebensogut als ihre Männer in den Krieg ziehn und ihren Rang haben, nicht nur in der Schlacht, sondern auch zu Befehlshaberstellen; bei denen man nicht nur in der Nase, in den Lippen, in den Wangen, an den Zehen Ringe trägt, sondern goldene Spangen von schwerem Gewicht durch die Brüste und Lenden; wo man beim Essen die Finger an den Hüften, an gewissen behaarten Teilen und an den Fußsohlen abwischt. Bei anderen erben die Kinder nicht, sondern die Brüder und Vettern; und anderwärts allein die Vettern, ausgenommen bei der Erbfolge des Fürsten; von anderen noch, wo, um die Gemeinschaft der Güter, die bei ihnen eingeführt ist, in Kraft zu erhalten, gewisse hohe, obrigkeitliche Personen gesetzt sind, die Aufsicht über den gesamten Ackerbau zu führen und die Früchte des Landes nach eines jeden Bedürfnis zu verteilen. Wo man über den Tod der Kinder trauert und übler den Tod der Greise Freudenfeste veranstaltet. Wo ihrer zehn oder zwölf mit ihren Weibern in einem Bett schlafen. Wo die Weiber, die ihre Männer durch einen gewaltsamen Tod verlieren, wieder heiraten dürfen, die anderen aber nicht. Wo man den Zustand der Weiber für so elend achtet, daß man die Mägdlein, welche unter ihnen geboren werden, tötet und von den benachbarten Nationen die Weiber kauft, deren man benötigt ist. Wo die Männer sich von ihren Weibern scheiden können, ohne eine Ursache anzugeben, die Weiber aber gar nicht, was für Ursach sie auch hätten. Wo die Männer nach dem Gesetz ihre Weiber verkaufen können, wenn sie unfruchtbar sind.

Länder, wo sie die Leichname der Verstorbenen kochen und hernach so lange stampfen, bis es eine Art von Brühe gibt, die sie zu ihrem Wein mischen und trinken. Wo das wünschenswürdigste Begräbnis ist, von Hunden gefressen zu werden: so wie anderwärts von den Vögeln. Wo man glaubt, daß die Seelen der Verstorbenen in aller Freiheit leben, in angenehmen Gefilden, mit allen erwünschten Bequemlichkeiten versehen, und daß diese es sind, welche das Echo machen, das wir hören. Wo sie im Wasser fechten und schwimmend mit ihren Pfeilen sicher treffen. Wo man, zum Zeichen der Untertänigkeit, die Schultern in die Höhe ziehn, den Kopf senken und die Schuhe von den Füßen ziehen muß, wenn man in die Wohnung des Königs tritt. Völker, die den Beschnittenen, die ihre Priesterinnen bewachen, auch noch Nase und Lippen wegschneiden, damit sie nicht geliebt werden können, und bei denen die Priester sich die Augen ausstechen, um Geister zu sehn und die Orakel fragen zu können.

Völker, wo jedermann aus jedem ihm beliebigen Ding einen Gott machen kann. Der Jäger aus einem Löwen oder aus einem Fuchs; der Fischer aus gewissen Fischen, und Götzenbilder aus jeder Handlung und Leidenschaft des Menschen. Sonne, Mond und Erde sind die vornehmsten Götter. Wo die Eidesformel darin liegt, daß man die Erde berührt und die Sonne anschaut; wo man Fleisch und Fisch roh und ungekocht ißt. Wo der heiligste Eid darin besteht, daß man den Namen eines Verstorbenen ausspricht, der im Lande einen guten Nachruhm hat, und sein Grab mit der Hand berührt.

Wo das Neujahrsgeschenk, das der König jedesmal seinen Prinzen und Großen des Reiches sendet, in Feuer besteht, bei dessen Ankunft alles alte Feuer ausgelöscht werden muß und alles Volk umher gehalten ist, davon für sich zu holen, bei Strafe des Verbrechens der beleidigten Majestät.

Wo, wenn der König sich ganz der Andacht widmen will und den Zepter niederlegt, wie oft der Fall ist, sein erster Thronerbe genötigt ist, eben dasselbe zu tun und der Thron, nach dem Recht, auf den dritten Erben fällt. Wo man die Reichsverfassung verändert, je nachdem es die Umstände zu erheischen scheinen. Wo man den König absetzt, wenn es gut zu sein scheint; wo man an seiner Statt Älteste ernennt, um das Staatsruder zu führen, und es gar zuweilen in den Händen der Gemeinde läßt. Wo Männer und Weiber beschnitten und ebenfalls getauft werden. Wo ein Soldat, der in einer oder mehr Schlachten es so weit gebracht hat, dem Könige sieben feindliche Köpfe zu überreichen, in den Adelstand erhoben wird. Wo man unter der so ungeselligen und so seltenen Meinung von der moralischen Würde der Seele lebt, daß man sie für sterblich hält. Wo die Weiber ohne Klagen und ohne Furcht gebären.

Wo das Frauenzimmer an beiden Beinen Stiefel von Kupfer trägt und aus Pflicht der Seelengröße verbunden ist, wenn es eine Laus beißt, solche wieder zu beißen, und sich nicht unterwinden dürfen, zu heiraten, bevor sie ihrem König, wenn er’s verlangt, ihre Jungferschaft angeboten haben.

Wo man grüßt, indem man mit dem Finger die Erde berührt und ihn darauf wieder gegen den Himmel ausstreckt. Wo die Mannspersonen Lasten auf dem Kopf, Frauenzimmer solche aber auf den Schultern tragen. Wo die Weiber stehend, die Männer aber hockend die Blasen erleichtern. Wo man zum Zeichen der Freundschaft etwas von seinem eigenen Blut schenkt und denjenigen wie einen Gott räuchert, den man ehren will. Wo man nicht nur bis zum vierten Grad, sondern auch bis zu allen ferneren Graden der Verwandtschaft die Heirat verbietet. Wo man die Kinder vier Jahre an der Brust läßt, oft auch zwölf, und ebendaselbst es für tödlich hält, das Kind den ganzen ersten Tag an die Brust zu nehmen. Wo die Väter das Amt haben, die Söhne zu züchtigen, und die Mütter allein wieder die Töchter, und die Strafe darin besteht, die mutwilligen bei den Beinen aufgehängt zu beräuchern. Wo man das weibliche Geschlecht beschneidet. Wo man alle Arten von Kräutern ißt, ohne anderen Unterschied, als daß man nur die verwirft, welche schlecht zu riechen scheinen. Wo alles offensteht, wo in den Häusern, sie mögen noch so prächtig sein, weder Fenster noch Türen sind, auch keine Schränke oder dergleichen, was man verschließen könne; und wo die Diebe doppelt bestraft werden wie anderwärts. Wo sie die Läuse mit den Zähnen töten, gleich Hunden und Affen und es für grausam halten, sie mit dem Daumen zu knicken. Wo man sich lebenslang weder Haar noch Nägel beschneidet, und anderwärts, wo man die Nägel nur an der Rechten abschneidet und aus Staat die an der Linken wachsen läßt.

Wo man das Haupthaar an der rechten Seite des Körpers verpflegt, zum besten Wachstum, und an der anderen Seite unterm Schermesser hält. Wo, in benachbarten Provinzen, diese hier das Haupthaar vorne, jene das hintere wachsen lassen und die Gegenseite scheren. Wo die Väter ihre Kinder und die Männer ihre Eheweiber ihren Gästen gegen Bezahlung zum Gebrauch verleihen. Wo man seine eigene Mutter mit allen Ehren fruchtbar machen kann und die Väter sich mit ihren Töchtern und Söhnen begatten. Wo sie bei festlichen Versammlungen einander ihre Kinder leihen und keine Rücksicht auf Verwandtschaft nehmen.

Hier lebt man von Menschenfleisch, dort ist es kindliche Pflicht, seinen Vater in einem gewissen Alter zu töten. Anderwärts verordnen die Väter über ihre noch ungeborenen Kinder, welche auferzogen und erhalten und welche davon ausgesetzt oder getötet werden sollen. Bei anderen Völkern verleihen die alten Ehemänner ihre Weiber der Jugend zum Gebrauch, und bei wieder anderen sind solche ohne Sünde allen gemeinschaftlich. Ja in einigen Provinzen tragen sie als Ehrenzeichen so viele Troddeln auf dem Saum ihrer Röcke, als so manche Mannspersonen ihrer Gunst teilhaftig geworden sind.

Hat die Gewohnheit nicht auch ein öffentliches bloßes Weiberregiment eingeführt? Hat solche ihnen nicht die Waffen in die Hände gegeben? Haben sie nicht Kriegsheere errichtet und Schlachten geliefert? Und lehrt sie nicht durch ihre bloße Anordnung den gröbsten gemeinen Haufen, was alle Philosophie den weisesten Köpfen nicht einprägen können? Denn wir wissen von ganzen Nationen, wo der Tod nicht bloß verachtet, sondern gefeiert wird; wo die Kinder von sieben Jahren sich auf den Tod stäupen ließen, ohne eine Miene zu verziehn. Wo der Reichtum in solcher Verachtung war, daß der ärmlichste Bürger der Stadt nicht die Hand ausgestreckt hätte, um einen Beutel voll Gold aufzuheben. Wir wissen von Ländern, die sehr ergiebig an allerlei Lebensmitteln waren, wo gleichwohl die gewöhnlichste und schmackhafteste Nahrung in bloßem Brot, Kümmel und Wasser bestand. Tat sie nicht noch das Wunder in Chio, daß daselbst siebenhundert Jahre verflossen, ohne daß man erfahren, daß eine Frau oder ein Mädchen einen Fehltritt gegen ihre Ehre gemacht hätte! Kurz, nach meinem Dafürhalten kann sie alles tun und tut alles. Und Pindar nennt sie daher, wie man mir gesagt hat, mit Recht die Königin und Herrscherin der Welt.

Derjenige, den man dabei antraf, daß er seinen Vater schlug, verantwortete sich damit: Es sei in seiner Familie so Gewohnheit; also habe sein Vater seinen Großvater und sein Großvater seinen Urgroßvater geschlagen; der dort, indem er auf seinen Sohn wies, wird auch mich schlagen, wenn er zu meinem Alter gelangt sein wird. Und der Vater, der den Sohn auf die Gasse schleppte und mit Füßen trat, befahl ihm an einer Ecke einzuhalten, denn weiter hab‘ er es mit seinem Vater nicht getrieben! Hier wäre die Grenze der erblichen Mißhandlungen, welche die Kinder in ihrer Familie an ihren Vätern zu verüben pflegten. Aristoteles sagt, die Weiber reißen sich ebensowohl aus Gewohnheit als wegen Krankheit ihr Haupthaar aus und käuen an ihren Nägeln und essen Kreide, Kohlen und Erde; und es ist mehr aus Gewohnheit als Naturtrieb, daß der Mann sich zum Manne tut.

Die Gesetze des Gewissens, die nach unserer Sage in der Natur liegen, entspringen aus der Gewohnheit. Ein jeglicher Mann, der in seinem Inneren die Meinungen und Sitten verehrt, die um ihn her gebilligt werden und im Schwange gehen, kann sich ihnen nicht entziehen, ohne daß ihn sein Gewissen darüber bestrafe, noch sich demselben gemäß betragen, ohne daß er ihnen Beifall gäbe. Wenn vor alters die Cretenser jemand fluchen wollten, so baten sie die Götter, ihn in eine böse Gewohnheit fallen zu lassen. Die vornehmste Wirkung aber ihrer Macht ist, uns dergestalt zu unterwerfen und zu beherrschen, daß wir kaum das Vermögen behalten, uns ihr wieder zu entreißen und uns der Freiheit zu bemächtigen, über ihre Verordnungen nachzudenken und vernünftige Betrachtungen anzustellen. In Wahrheit, weil wir solche von unserer Geburt an mit der Muttermilch einsaugen und sich das Antlitz der Welt unserem Blicke also darstellt, wie wir zuerst die Augen eröffnen: so scheint es, als ob wir dazu geboren sind, in diesem Joch zu gehn. Und die allgemeine Einbildung, die wir um uns her in Ansehen erblicken und welche schon in dem Samen wirkte, aus dem wir erzeugt wurden, kann uns nicht wohl anders als natürlich und verbindend vorkommen. Daher es denn auch kommt, daß alles, was nicht in die Fugen der Gewohnheit paßt, sich auch nicht mit der Vernunft zu vertragen scheint; obgleich, Gott weiß, dieser Glaube oft sehr vernünftig ist.

Wenn ein jeder, der einen Sittenspruch hört, wie wir, die wir uns selbst studieren, zu tun gelernt haben, alsobald nachforschte, von welcher Seite ihn derselbe eigentlich treffe: so würde ein jeder finden, daß dieser nicht sowohl eine hübsch gerundete Maxime als vielmehr ein Peitschenhieb sei, der auf die träge Dummheit seines Urteils fällt. Aber man nimmt die Lehren der Wahrheit und ihre Warnungen als ans Volk gerichtet und gar nicht an uns selbst; und anstatt solche auf die eigenen Sitten anzuwenden, faßt sie jedermann bloß ins Gedächtnis, und das ist ebenso dumm, als es unnütz und vergebens ist. Aber laß uns zurückkehren zur Macht der Gewohnheit.

Die Völker, die an die Freiheit gewohnt sind, sich selbst zu beherrschen, halten jede andere Regierungsform für ungeheuer und der Natur zuwider. Solche Völker aber, welche an die monarchische Regierung gewohnt sind, machen es gerade ebenso. Und welche günstige Veranlassung ihnen Glück und Umstände an die Hand geben mögen, selbst dann, wenn sie mit großen Schwierigkeiten sich eines Despoten entledigt haben, haben sie nichts Angelegentlicheres am Herzen, als einen anderen mit ebenso großen Schwierigkeiten auf den Thron zu pflanzen, weil sie sich nicht entschließen können, die Gewalt des Despotismus zu hassen. Es ist die Macht der Gewohnheit, die es bewirkt, daß ein jeder gern an dem Ort bleibt, wo er geboren worden. Die Wilden in Schottland bekümmern sich wenig um das südliche Frankreich, und die Skythen machten sich nichts aus Thessalien.

Darius tat an einige Griechen die Frage: Um wieviel sie wohl die Gewohnheit der Indianer annehmen würden, ihre verstorbenen Väter zu essen? Denn dies war dort der Brauch, nach der Meinung, sie könnten solchen kein ehrenvolleres Begräbnis geben als in ihren eigenen Eingeweiden. Die Griechen antworteten: Um keinen Preis in der Welt würden sie das tun. Als er aber bei den Indianern versucht hatte, sie zu bereden, sie möchten ihren Brauch fahrenlassen und dafür den griechischen annehmen, der darin bestand, die Leichen ihrer Väter zu verbrennen, erregte es bei diesen einen noch größeren Greuel. So geht es mit allem! Um so mehr, da uns die tägliche Gewohnheit den wahren Gesichtspunkt der Sachen verbirgt.

Nil adeo magnum, nec tam mirabile quicquam

Principio, quod non minuant mirarier omnes

Paullatim.

Als ich einst die Beobachtung gewisser Sitten einführen sollte, die weit und breit um uns her in der Nachbarschaft in voller Achtung standen und doch, wie wohl zu geschehen pflegt, nicht mit bloßer Gewalt der Gesetze oder Beispiele dabei verfahren wollte, so forschte ich sehr emsig nach ihrem ersten Ursprung und fand sie bei diesem Forschen auf so schwachen Gründen, daß sie mich fast anekelten; mich, der ich sie doch anderen anpreisen sollte. Dies Rezept ist es, wodurch Plato sich zutraut, die widernatürliche und heillose Knabenliebe zu verbannen, die er zu seiner Zeit für allgemein und herrschend hält. Nämlich, sie durch die öffentliche Meinung zu verschreien. Die Dichter, und wer sonst noch könnte, sollten schlimme Erzählungen davon machen. Ein Rezept, vermittelst dessen jetzt die lieblichsten Töchter nicht mehr ihre Väter noch die schönst gewachsenen Jünglinge ihre Schwestern zur Liebe reizen. Selbst die Fabeln von Thyest, von Oedip und Makareus hätten, meint er, neben dem Vergnügen an den Versen, dem biegsamen Gehirn der Kinder diesen nützlichen Glauben eingeprägt. Wirklich ist die züchtige Schamhaftigkeit eine schöne Tugend, deren nützlicher Einfluß auf die Sitten anerkannt genug ist. Solche aber nach ihrer natürlichen Beschaffenheit abzuhandeln und anzupreisen, das ist ebenso schwer, als es leicht ist, sie durch eingeführte Gewohnheiten, Gesetze und Vermahnungen im Gange zu erhalten. Die ersten und allgemeinen Grundursachen sind schwer zu entwickeln. Auch fahren unsere Pädagogen ganz leise darüber hin und getrauen sich kaum, sie zu berühren, und stürzen sich um so zuverlässiger auf allgemein bekannte Gewohnheiten; da blähen sie sich dann mit ihrem leichten Sieg. Diejenigen, welche aus diesem seichten Grund des Ursprungs nicht herausgehen, und diejenigen, welche in größere Tiefe gehn wollen, fehlen noch ärger und unterwerfen sich eingebildeten Meinungen. Zum Beispiel Chrysippus, welcher in so häufigen Stellen seiner Schriften äußerte, wie wenig Gewicht er auf blutschänderische Vermischung legte, ohne Rücksicht sogar auf Verhältnisse.

Wer sich von diesem mächtigen Vorurteil der Gewohnheit lossagen will, der wird auf manche Dinge stoßen, die mit unbezweifelbarem Entschluß aufgenommen sind und gleichwohl keine andere Stütze haben als den grauen Bart und die Stirnrunzeln, der Gewohnheit, die sie begleitet. Hat er aber diese Larve abgerissen, indem er jedes Ding auf Wahrheit und Vernunft zurückführt, so wird er sein Urteil wie auf den Kopf gestellt und dennoch viel sicherer und fester befinden. Zum Beispiel, ich würde ihn in jener Lage fragen, was wohl befremdlicher sein könne, als zu sehn, daß ein Volk genötigt sei, sich nach Gesetzen richten zu lassen, die es nicht einmal versteht; das in allen seinen häuslichen Geschäften, Eheverbindungen, Vermächtnissen, Testamenten, Kauf und Verkauf an Vorschriften gebunden ist, die es nicht wissen kann, weil sie in seiner Landessprache weder abgefaßt noch bekanntgemacht worden, und die es also genötigt ist, sich für Geld, um nicht dagegen zu sündigen, bekanntmachen und erklären zu lassen. Nicht etwa nach der scharfsinnigen Meinung des Isokrates, der seinem König den Rat gab, Handel und Gewerbe seinen Untertanen ganz frei zu geben und so einträglich zu machen als möglich; hingegen auf ihre Streitigkeiten starke Lasten zu legen und solche beschwerlich zu machen, sondern nach einer unbegreiflichen Meinung, die Vernunft selbst zu einer verkäuflichen Ware zu machen und die Gesetze zu Artikeln auf der Preiskurrente. Ich weiß es dem Glück viel Dank, welches, wie unsere Geschichtsschreiber sagen, einen gaskognischen Edelmann aus meiner Gegend erweckte, daß er der erste wurde, der sich Karl dem Großen widersetzte, als er uns die römischen, in Latein verfaßten Gesetze geben wollte.

Findet man etwas wilderes als eine Nation, bei der nach wohlhergebrachter Gewohnheit das Richteramt gekauft wird und die Urteile mit barem Geld bezahlt werden und wo es gesetzlich ist, daß demjenigen die Gerechtigkeit versagt werde, der nicht vermögend ist, sie zu bezahlen? Und daß dieser Handel in solchem Ansehn stehe, daß er von den Leuten, welche die Prozesse handhaben, eine vierte Ordnung im Staat mache, um solche den drei alten der Kirche, des Adels und des Volks anzuschließen? Und daß diese Ordnung, weil sie über die Anwendung der Gesetze gesetzt ist und die höchste Macht über Eigentum und Leben ausübt, einen verschiedenen Stand von Adel ausmache? Woraus erfolgt, daß es zweierlei Gesetze gibt, Gesetze der Ehre und Gesetze der Gerechtigkeit, die sich in verschiedenen Dingen einander widersprechen. Jene verdammen ebenso streng das Nichtahnden einer beschuldigten Lüge als diese die Rache wegen einer beschuldigten Lüge. Nach den Gesetzen der Ehre und der Waffen geht derjenige seines Adels und seiner Ehrenstellen verlustig, wer eine Beleidigung einsteckt; und nach den bürgerlichen Gesetzen ist derjenige, welcher deswegen Rache nimmt, Leib- und Lebensstrafen ausgesetzt.6 Wer sich an die Gesetze wendet und für eine seiner Ehre zugefügte Beleidigung Genugtuung begehrt, beschimpft sich, und wer diese übergeht und sich die Genugtuung selbst nimmt, den strafen und züchtigen die Gesetze! Und daß von diesen zwei so verschiedenen Ständen, die gleichwohl in einem einzigen Oberhaupt zusammenlaufen, der eine den Auftrag des Friedens, der andere des Krieges habe? Die von dem einen den Gewinn, die vom anderen die Ehre, jene Gelehrsamkeit, diese die Tugend, jene die Worte, diese die Taten, jene die Gerechtigkeit, diese die Tapferkeit, jene die Vernunft, diese die Gewalt, jene den langen Mantel, diese die kurze Uniform zum Anteil haben? In Rücksicht auf gleichgültigere Dinge, als zum Beispiel Kleidung – wer solche auf ihre wahre Bestimmung zurückführen will: welches die bequeme Deckung des Körpers ist, wovon ihre ursprüngliche Zierlichkeit und Schicklichkeit abhängt, sie mag auch, nach meiner Meinung, noch so seltsam ausgedacht und erfunden sein, so verweise ich ihn unter anderem auf unsere viereckigen Mützen; auf diese lange Schleppe von gefaltetem Samt, die nebst anderen seltsamen Zieraten an den Köpfen unserer Damen flattert; und auf den eitlen, unnützen Bausch eines Gliedes, das wir nicht einmal mit Ehren nennen können und womit wir gleichwohl in öffentlichen Gesellschaften einherstolzieren. Diese Betrachtungen halten indessen keinen verständigen Menschen ab, dem gemeinen Brauch zu folgen; im Gegenteil dünkt mich, daß jede Abweichung von der eingeführten Mode mehr hochmütige und törichte Ziererei verrate als einen gesunden Verstand und daß der Weise seine Seele in sich selbst, aus dem Gedränge zurückziehen müsse, um ihr die Freiheit und das Vermögen zu erhalten, über alle Dinge unbefangen zu urteilen; daß er aber, in Absicht auf das Äußerliche, ohne weiteres den eingeführten Moden und Formen folgen müsse. Was geht die öffentliche Gesellschaft unserer Art zu denken an? Im übrigen aber sind wir schuldig, unsere Handlungen, unsere Bemühungen, unser Vermögen und unsere Lebensart zu ihrem Dienst zu widmen und nach der allgemeinen Meinung zu bequemen, wie der gute und große Sokrates es ausschlug, sein Leben zu retten, wenn er der Obrigkeit ungehorsam würde – obgleich einer sehr ungerechten und gottlosen Obrigkeit. Denn, das ist die Regel aller Regeln und das Hauptgesetz aller Gesetze, daß ein jeglicher sich denen unterwerfe, die in dem Lande gelten, wo er sich befindet.

Νόμοις πεσϑαι τοσιν γχωρίοις καλόν.

Laß uns ein ander Faß anstecken. Es ist äußerst zweifelhaft, ob sich ein so großer und reiner Gewinn dabei findet, irgendein eingeführtes Gesetz zu verändern, sei es beschaffen, wie es wolle, als Nachteil aus seiner Veränderung entsteht: um so mehr, da es mit einer Landesverfassung ist wie mit einem Gebäu, das aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt worden und in so genauer Verbindung steht, daß es unmöglich ist, eins zu verrücken, ohne daß es das Ganze empfinde. Der Gesetzgeber von Thurien verordnete, daß ein jeder, der ein altes Gesetz abgeschafft oder ein neues eingeführt wissen wollte, sich mit dem Strick um den Hals dem Volk darstellen solle, damit, wenn sein neues Gesetz nicht von jedermann gebilligt würde, er auf der Stelle erdrosselt würde. Und der lakedämonische Legislator setzte sein Leben daran, um von seinen Mitbürgern die feste Zusage zu erhalten, daß sie von seinen Verordnungen keine übertreten wollten. Der Ephorus, welcher so unerbittlich die zwei Musikintervalle, wegschnitt, die Phrinys dem alten Modum hinzutun wollte, bekümmerte sich nicht darum, ob die Modulation dadurch wohlklingender würde oder die Akkorde zusammenhängender; ihm war es genug, um sie zu verwerfen, daß es eine Veränderung in der alten, bekannten Tonleiter sei; das ist es auch, was das alte verrostete Schwert der Gerechtigkeit zu Marseille andeutete.

Ich habe eine Abneigung vor aller Neuerung, unter welcher Gestalt sie auch auftritt; und meine nicht unrecht zu haben, nachdem ich davon so schädliche Folgen erlebt habe. Jene, die uns seit so vielen Jahren drückt, hat zwar nicht alles selbst gewirkt. Man kann aber doch mit Schein behaupten, daß sie zufälliger weise alle die Übel und Nachteile erzeugt und hervorgebracht hat, die vorher ohne und wider sie geschehn sind; mag sie sich dafür die Nase zwicken:

Heu, patior telis vulnera facta meis!

Diejenigen, welche einen Staat aus den Fugen heben, sind gewöhnlich die ersten, denen er auf den Kopf stürzt. Die Frucht der Verwirrung ist selten der Lohn dessen, der sie angestiftet hat; er rührt und trübt das Wasser für andere Fischer. Der Zusammenhang und das Gewebe dieser Monarchie, und dies große Gebäude, das durch die Neuerung in seinen alten Jahren so sichtlich zerrüttet und aufgelöst worden, vermag dem Unheil so viel Öffnung und Eingang verschaffen, als man wolle; man wird es dennoch schwerer finden, die Majestät von ihrer Höhe bis zur Mitte zu erniedrigen, als sie von der Mitte bis zum Boden zu stürzen. Um so schädlicher aber die Erfinder sind, um so schändlicher sind die Nachahmer, daß sie sich auf Beispiele einlassen, deren Nachteil und Abscheulichkeit sie empfunden und bestraft haben. Und, wenn noch selbst beim Unheilstiften ein gewisser Grad von Ehre stattfindet, so müssen diese letzten den ersten den Ruhm der Erfindung und Herzhaftigkeit beim ersten Wagen überlassen. Alle Arten von neuer Zügellosigkeit schöpfen leicht und lustig aus dieser ersten unversiegbaren Quelle die Bilder und Muster zur Störung unserer Staatsverfassung.

Man liest in unseren Gesetzen selbst, die dazu gemacht sind, diesem ersten Übel zu steuern, die Methode und die Entschuldigung aller Arten von heillosen Unternehmungen, und geht es uns damit, wie Thucydides von den bürgerlichen Kriegen sagt: um öffentliche Gebrechen zu beschönigen, belege man sie mit neuen, sanftklingenden Benennungen und mildere und verkleistere ihre wahren Namen; dennoch will man unser Gewissen und unseren Glauben reformieren; honesta oratio est. Sicher, aber der beste Vorwand bei jeder Neuerung ist gefährlich.

Adeo nihil motum ex antiquo, probabile est.

Mich deucht auch, um es frei heraus zu sagen, es sei ein gut Teil Eigenliebe und nicht wenig Eigendünkel erforderlich, seine eigene Meinung für wichtig genug zu halten, um solche auf Gefahr des öffentlichen Friedens einzuführen und dagegen die mannigfaltigen, unvermeidlichen Übel und diese tiefe Verderbnis der Sitten für nichts zu achten, welche bürgerliche Kriege nach sich ziehen, und also seine Ansichten für wichtiger anzusehn als die Umkehrung der Staatsverfassung in so wichtigen Dingen.

Heißt das nicht verkehrt zu Werke gehn, wenn man so viele gewisse und bekannte Laster herbeiführt, um Irrtümer zu bestreiten, die nicht einmal zugegeben werden und über welche sich reden läßt? Gibt es eine schlimmere Art von Lastern als solche, welche gegen unser eigenes Wissen und Gewissen anlaufen?

Der Senat zu Rom wagte es, dem Volk, das mit ihm über den Dienst der Religion uneinig war, folgende Ausflucht für bar Geld zu geben: Ad Deos id magis quam ad se pertinere; ipsos visuros ne sacra sua polluantur11; ebenso wie das Orakel den Delphiern antwortete, welche im Medischen Krieg den Einfall der Perser fürchteten. Sie fragten den Gott, wie sie es mit den heiligen Schätzen seines Tempels halten, ob sie solche verbergen oder wegbringen sollten. Er antwortete ihnen, sie sollten alles unangetastet lassen und sich um sich selbst bekümmern. Er werde sein Eigentum schon zu beschützen wissen.

Die christliche Religion trägt alle Kennzeichen einer großen Gerechtigkeit und Nützlichkeit an sich. Das deutlichste darunter aber ist die angelegentliche Empfehlung des Gehorsams gegen alle weltliche Obrigkeit und Befolgung aller bürgerlichen Gesetze. Welch ein bewunderungswürdiges Beispiel hat uns davon die göttliche Weisheit gegeben, die, um das Heil des menschlichen Geschlechts zu begründen und den glorreichen Sieg über Sünde und Tod hinauszuführen, keine gewalttätige Umkehrung der Reiche und Regierungen zugelassen, sondern vielmehr ihre Führung und Leitung eines so großen und heilsamen Werkes der Blindheit und Ungerechtigkeit unserer Gewohnheiten und Gebräuche unterworfen hat; das Blut so mancher auserwählten Lieblinge ließ sie fließen und gab zu, daß eine Reihe von Jahren dahinflösse, bevor die unschätzbare Frucht zur Reife gediehe. Die Sache desjenigen, der den Gewohnheiten und Gesetzen seines Landes folgt, ist von der Sache desjenigen sehr unterschieden, der solche zu meistern und abzuändern sich erkühnt. Jener führt Einfalt, Gehorsam und Beispiel zu seiner Entschuldigung an, und bei seinem Tun, es bestehe worin es wolle, mag Unglück stattfinden, aber Bosheit nie. Quis est enim, quem non moveat clarissimis monumentis testata consignataque antiquitas?12 Außerdem noch, was Isokrates sagt, daß das Zuwenig sich näher an die Mäßigung fügt als das Zuviel. Dieser andere wandelt einen viel höckerigeren Weg. Denn, wer sich’s anmaßt zu wählen und zu ändern, greift nach dem Ansehn des Richteramtes und muß beweisen, daß er das Fehlerhafte dessen, was er verdrängen will, erkennt, so wie das Bessere in dem, was er einführt.

Diese so alltägliche Betrachtung hat mich auf meiner Bank stetig erhalten und selbst der Kühnheit meiner Jugend einen Zaum angelegt; damit ich meine Schultern nicht mit einer so schweren Last drückte, als die, eine so wichtige Wissenschaft zu verantworten und hierin etwas zu wagen, was ich bei gesundem Verstand in derjenigen nicht wagen möchte, welche viel leichter ist, wozu ich auferzogen worden und in welcher Kühnheit im Urteilen keine nachteiligen Folgen hat. Mich deucht es Verwegenheit, wenn man öffentlich eingeführte und eingewurzelte Gewohnheiten und Verfassungen der schwankenden Phantasie eines einzelnen Menschen unterwerfen will. Eine eingeschränkte Vernunft kann nur eine eingeschränkte Gerichtsbarkeit haben: so, wie keiner Herrscher über seinesgleichen ist und es sich herausnehmen darf, über göttliche Gesetze zu richten, welches nicht einmal bei bürgerlichen Gesetzen verstattet wird, obgleich letztere bei alledem, daß die menschliche Vernunft dabei viel mehr mitwirkt, doch allemal entscheidende Richter über ihre Richter sind: und die äußerste Anmaßung es nur wagt, sie zu erklären und ihre Anwendung zu bestimmen, nicht aber ihnen auszuweichen oder sie zu ändern. Wenn die göttliche Vorsehung zuweilen über die Regeln hinausgegangen ist, an welche sie notwendigerweise ihre Gesetze hat binden müssen, so geschah das nicht, um uns davon freizusprechen. Das sind Verfügungen ihres unerforschlichen Ratschlusses, die wir nicht nachzuahmen, sondern zu bewundern haben, es sind außerordentliche Beispiele einer besonderen und eigenen Zulassung! Es ist dies eine Art von Wundern, welche die Hand Gottes uns darlegt, um ihre Allmacht zu beweisen, welche über unsere Einrichtungen und Kräfte hinausreicht und welche nachzuahmen zu suchen Gottlosigkeit und Narrheit wäre; der wir nicht folgen, sondern mit Erstaunen nachsinnen wollen. Es sind Handlungen der Gottheit, nicht der Menschheit. Cotta läßt sich darüber sehr vernünftig heraus: Quum de religione agitur, Tib. Coruncanium, P. Scipionem, P. Scaevolam, pontifices maximos, non Zenonem aut Cleanthem aut Chrysippum sequor.

Gott mag wissen, wie viele bei unserem gegenwärtigen Zwist, wo hundert Artikel, und zwar sehr wichtige und schwer zu entscheidende, wegzuschaffen und einzuführen sind, wie viele sich finden mögen, die sich rühmen können, die Ursachen und Gründe der einen und der anderen Partei reiflich erwogen und erforscht zu haben.

Es ist ein Haufen, wenn’s einmal ein Haufen wäre, der eben nicht sonderlich imstande ist, uns zu beunruhigen. Die andere Schar aber, was beginnt sie? Unter was für einem Panier zeichnet sie sich aus? Mit ihrer Arznei geht es geradeso wie mit anderen unkräftigen, übel angebrachten Abführungsmitteln: die verdorbenen Säfte, die sie aus unserem Körper schaffen sollte, hat sie aufgerührt, verschärft und in Gärung gesetzt und ist selber im Körper steckengeblieben. Sie war zum Abführen zu schwach und hat uns gleichwohl entkräftet, so daß wir sie selbst nicht wieder loswerden können und von ihrer Wirkung nichts weiter haben als langes schmerzliches Bauchgrimmen. Die Sache ist, daß das Glück, welches immer sein Ansehen über unsere Klugheit behauptet, uns zuweilen in solche dringende Notwendigkeit versetzt, die es unvermeidlich macht, daß die Gesetze einigen Spielraum zulassen müssen; und daß, wenn man einer überhandnehmenden Neuerung widersteht, die sich mit Gewalt uns aufdrängen will, man in allen Stücken und durchaus gegen diejenigen gerade und behutsam verfahren müsse, welche die Gewalt in Händen haben und denen alles das erlaubt ist, was ihr Vorhaben befördern kann; die keine anderen Gesetze oder Verordnungen haben, als ihrem Vorteil nachzujagen. Es wäre eine gefährliche Pflicht und eine große Ungleichheit.

Aditum nocendi perfido praestat fides.

Um so mehr, da die gewöhnliche Verfassung eines Staates, in seiner Gesundheit, keine Vorkehrungen gegen solche außerordentliche Zufälle zu machen pflegt. Sie setzt einen Körper voraus, der sich in seinen vornehmsten Gliedern und Wirkungen festhält, und im allgemeinen Einverständnis über Folgsamkeit und Gehorsam. Der gesetzmäßige Gang ist kalt, bedächtig und abgemessen und verträgt sich nicht mit dem ausgelassenen Gang der Zügellosigkeit. Es ist bekannt, wie man den zwei großen Männern, Octavius und Cato, noch jetzt darüber Vorwürfe macht, daß sie in den bürgerlichen Kriegen gegen Sulla und Cäsar ihre Partei lieber die äußerste Gefahr laufen lassen, als solche auf Kosten der Gesetze retten und Änderung in der Staatsverfassung leiden wollen.

Denn in Wahrheit, in dieser höchsten Not, wo fast nichts mehr zu retten ist, da wäre es doch wohl weiser gehandelt, den Kopf zu bücken und dem Streich ein wenig auszuweichen, als gegen die Unmöglichkeit anrennen, nichts nachgeben wollen und lieber der Gewalttätigkeit Anlaß geben, alles unter die Füße zu treten. Und wäre es doch auch wohl besser, die Gesetze das wollen zu lassen, was sie können, weil sie nicht können, was sie wollen. So machte es jener, welcher befahl, sie sollten vierundzwanzig Stunden schlafen; und jener, der für das Mal einen Tag aus dem Kalender strich und der andere auch, der aus dem Monat Juni den zweiten Mai machte.

Selbst die Lakedämonier, diese so strengen Bewahrer der Verordnungen ihres Landes, als ihnen das Gesetz, welches verbot, einen und denselben Mann zweimal zum Admiral zu wählen, im Wege stand und auf der andern Seite ihre Lage es als die höchste Notwendigkeit erforderte, daß Lysander diese Stelle abermals bekleidete, so machten sie zwar einen gewissen Arachus zum Admiral, setzten aber Lysander zum Oberaufseher über das Seewesen.

Mit eben der Gewandheit riet einer ihrer Gesandten bei den Atheniensern (der eine Änderung in gewissen Verordnungen bewirken sollte), dem Perikles, der zur Entschuldigung der Weigerung anführte, es sei im Gesetz verboten, eine Tafel wegzunehmen, worauf ein einmal gegebenes Gesetz geschrieben stände: er solle sie dann nur umwenden, denn das sei nicht verboten. Plutarch lobt am Philopoemen, daß er zum Regieren geboren gewesen und nicht nur nach den Gesetzen, sondern wenn es die Not des Gemeinwesens erfordert, selbst die Gesetze zu regieren verstanden habe.

 

 

 

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Michel de Montaigne, ein analoger Blogger

KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommen­tie­rung der Welt­lage zur Dauer­beschäf­tigung erhob. Seine Zeit­schrift „Die Fackel“ war gewisser­ma­ßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.